Während meines Studiums der Musikwissenschaft wohnte ich als Notenwenderin zahlreichen Musik-Produktionen und Konzerten im Sendesaal von Radio Bremen bei.
Unvoreingenommen ließ ich die Atmosphäre der Aufnahme-Situation auf mich wirken, die behutsamen Vorbereitungen beim Aufstellen und Einrichten der Mikrofone, das Ankommen und Einspielen der Musiker, Gespräche im Vorübergehen ...
Noten, welche ich während des Spiels der Pianisten und Pianistinnen zu verfolgen hatte, um sie an der richtigen Stelle im richtigen Moment möglichst unauffällig zu wenden, sah ich bei diesen Gelegenheiten meist zum ersten Mal. Während der Einspielphase fand ich Zeit, mich der Partitur und dem daraus lesenden Menschen zu nähern. Ich hatte es mit „Profis“ zu tun, viele schienen auch dann auswendig zu spielen, wenn ihr Blick auf das Notenblatt gerichtet war, so dass ich mich auf ihre inneren Schwingungen einließ, orientiert an den Bewegungen ihrer Augen, um den richtigen Moment und ein passendes Tempo im Wendevorgang zu erspüren.
In einem der vielen Konzerte sollte nun die zweite Sonate von Pierre Boulez aufgeführt werden, eine Live-Übertragung. Auf das Schlimmste gefasst besuchte ich die Bremer Musikbibliothek, hörte mir eine Aufnahme dieser Sonate an, während ich die Noten mitlas oder besser mitzulesen versuchte. An manchen Stellen war es mir trotz höchster Konzentration nicht möglich, den klingenden Verlauf mit den Noten zu verknüpfen, ohne den Faden zu verlieren, so dass ich mich an Mustern oder herausstechenden Spitzentönen orientierte.
Der Pianist Michaël Levinas wirkte extrem nervös und litt unter starkem Lampenfieber. Wer sollte ihm das verdenken? Er musste all die Töne spielen, die ich noch nicht einmal im Geiste nachzuvollziehen fähig war. Und dies in Anwesenheit eines ihn beobachtenden und hörenden Publikums, unter der Kontrolle einer anonymen Öffentlichkeit, das Festhalten dieses Klangereignisses würde gnadenlos konserviert bei Bedarf wieder abspielbar sein inklusive aller potenziell möglichen Fehler. Und derer gab es unzählige ...
Das Konzert war ein reiner Stress-Akt.
Als ich gestern auf eine Amazon-Rezension zur CD der drei Boulez-Sonaten, gespielt von Herbert Henck, stieß, erinnerte ich mich an dieses Spektakel in den 80er Jahren und kam aus dem Staunen nicht heraus. Der Rezensent behauptet von sich, die zweite Sonate einstudiert zu haben und auswendig zu kennen. So sieht er sich in der Lage, auf eine große Anzahl falscher Töne in der Aufnahme Hencks hinzuweisen mit der Schlussfolgerung:
"Herr Henck hat sich offenbar nicht die Mühe gemacht, die vielen Hilfslinien korrekt auszuzählen. Dann hat er auch die komplexen Rhythmen nicht korrekt ausgezählt; merhmals spielt er sogar Töne in der falschen Reihenfolge."
Obwohl der Autor dieser Zeilen in dem Wort merhmals zwei Buchstaben vertauscht, bin ich fähig, sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Solche Tippfehler passieren auch mir hin wieder unter emotionalem Druck, wenn es schnell gehen soll.
Ich bin unfähig nachzuprüfen, was an diesen vom Pianisten und damit Kollegen Daniel Fritzen aufgezählten Fehlern bzw. Abweichungen vom Notentext zutrifft.
Wohl aber bin ich in der Lage, die verbalen Ausdrucksformen seiner Rezension nachzuvollziehen und mir ein Bild zu machen bezüglich der Frage, ob ich eine solche Besprechung ernst nehmen kann bzw. möchte.
Geht es dem Pianisten um das Werk und eine ernstzunehmende, offene, wertschätzende Auseinandersetzung mit möglichen Interpretationen seiner Musikerkollegen? Oder hat da einfach nur jemand eine scheiß Laune, um einem Konkurrenten in die Eier zu treten, womit ich mich der Verständlichkeit halber auf das sprachliche Niveau des Rezensenten eingeschwungen habe.
"Herbert Henck spielt diese Werke - es tut mir leid, dies sagen zu müssen - schlecht."
Daniel Fritzen schreibt über diese Aufnahme: schlecht.
Es macht keine Freude, solche Rezensionen zu lesen, es schafft auch keine Freunde, weder für die (überaus komplizierte) Musik noch die Vielfalt vorhandener Interpretationen.
Traurig, aber „leider kein Einzelfall“, wie Eduard Zimmermann in seiner Sendereihe „Vorsicht, Falle“ als Warnung vor „Neppern, Schleppern, Bauernfängern“ zu warnen verstand.
Jutta Riedel-Henck, 23. März 2019