Ende der 80er schrieb ich an einer Rundfunksendung auf der Suche nach einer sinnvollen Aufgabe als frisch magistrierte Musikwissenschaftlerin und frei laufendes Huhn.
Der Titel kam mir wieder ins Bewusstsein, nachdem ich gestern, einem Impuls folgend, einen mit Papier gefüllten Aktendeckel aus einem Ablagekarton fischte, um neugierig darin zu blättern.
Ein mir unverständlicher Brief1 eines Rundfunkredakteurs lag nun vor mir auf dem Tisch.
„Daß Sie 70 Minuten benötigen, um C-Dur wie ein schlichtes Kind vom Lande als Lösung zu präsentieren, partizipierte schon bei Ives am Unwesen der Ansichtspostkarte. C-Dur ist eben nicht nur eine Kombination von Tönen, sondern gleichzeitig ein Kompendium von deren Geschichte.“
Ich war gerade etwas in Eile, packte meinen Rucksack, meine Ukulele, und saß bald mit 13 Frauen und Männern und mindestens so vielen Ukulelen im Foyer der Alten Schule, in der meine Nachbarin, ein hier geborenes und aufgewachsenes schlichtes Kind vom Lande, vor 50 Jahren Lesen, Schreiben, Rechnen und vor allem das Lernen lernte, gemeinsam mit jüngeren, älteren Kindern in einem Klassenraum. Der Lehrer und Rektor der kleinen Dorfschule beherrschte die große Kunst des mehrdimensionalen Unterrichtens, „1. Klasse Untertasse“ bis "4. Klasse Obertasse“ genossen den ganzheitlichen Service, hier befanden sich noch alle Tassen in einem Schrank.
„Summ, summ, summ, Bienchen, summ herum“. In C-Dur. Ein Kompendium? Der Geschichte von Tönen?
Davon hatten meine Landeier wie auch ich studiertes Stadtei bisher nichts gehört. Auf der Ukulele in C-Stimmung ließ sich diese kleine Melodie, die nicht mehr als fünf Töne braucht, in ihrer Eigenart im Spiel wunderbar zum Klingen bringen und uns mehr als nur ein Lächeln abgewinnen. Wie süß sie klang, unsere Ukulele, das kleine Lied ließ eine Biene summen und uns den ersten warmen Frühlingstag genießen, auf unsere schlichte, glückliche Weise.
„C-Dur ist eben nicht nur eine Kombination von Tönen, sondern gleichzeitig ein Kompendium von deren Geschichte. Wer wollte dieser hier in Mitteleuropa entrinnen? Daß Sie das Alte als das Neue offerieren, beleuchtet diese Aposie überdeutlich.“
Der Autor dieser Zeilen scheint zu wissen, was er mit der Aposie zum Ausdruck bringen möchte, ich kenne dieses Wort leider nicht.
„[...] ein »Thema« [...] wird gegen Ende zum häufig bemühten Skalenausschnitt »gereinigt« [...]. Solche »Reinigung« einigermaßen glaubhaft zu machen, gelingt aber nicht durch die Sache des Komponierens selbst, sondern durch den Glauben daran.“
Ich lasse diese Worte eine Weile in mir wirken. Es passiert nichts. Ich verstehe noch immer nicht, was der Autor damit sagen will. Kann er allein durch die Sache des Komponierens seiner verbalen Zeilen in mir zum Klingen bringen, was sein Geist, seine Seele mir, transportiert über diese Buchstabenkombinationen, sagen will? Dass ich es spüre? Unmissverständlich, direkt, eindeutig? Oder muss ich als Leserin an etwas glauben? Wie oft glauben wir, etwas zu kennen, zu verstehen, um uns nicht anmerken zu lassen, dass wir nicht verstanden oder wahrgenommen haben, was der andere uns sagen will?
Poesie ist die Einheit von verbaler Sprache und Klang, das Wort des Dichters ist Musik und wirkt unmittelbar. Eine Komposition bzw. der Vorgang des Komponierens kann entsprechend keine vom Fluss allen Seins und Schwingens abgetrennte Sache sein, die auf dem Seziertisch eines Analytikers auf seine Wirkung geprüft und anhand einzelner Merkmale definiert wird.
„Summ, summ, summ ...“
Es war sehr stürmisch in den letzten Wochen. Hier in Norddeutschland. Dann Windstille. Die Sonne erwärmt meine aufgekratzte Seele. Ein Zitronenfalter setzt sich auf die kleine Blume, die ich in einen Topf pflanzte. Ich freue mich wie ein Kind. Dies ist nicht mein erster Frühling. Oder doch? Jeder Tag ein neuer Tag. Und C-Dur eine neue Tonart. Deren Schönheit, Reinheit ich mit dem Älterwerden immer mehr zu schätzen und intensiv genießen wage ... wie dieses einfache Kinderlied aus fünf Tönen in C-Dur ... Wunder der Natur!
Alles neu macht der Mai ...
Jutta Riedel-Henck, 23. März 2019
1 Süddeutscher Rundfunk Stuttgart, Abteilung Musik, Brief an Walter Zimmermann vom 14.8.1975, Foto-Kopie